Heinz-Joachim Gärtner:

Die bittere Pille der Selbsterkenntnis

Selbsterkenntnis sei der erste Weg zur Besserung, behauptet der Volksmund. Selbsterkenntnis ist auch das Thema des Gedichtes „Selbstbildnis im Supermarkt” von Rolf Dieter Brinkmann aus dem Jahr 1968. Dem Leser begegnet ein lyrisches Ich, das seinerseits von einer Selbstbegegnung „erzählt”. Ein rätselhafter Vorgang, ausgelöst durch die Spiegelung in der Fensterscheibe eines Supermarktes.

Schon die äußere Gestalt des Gedichtes sticht ins Auge: Eine eigenwillige Formgebung sorgt dafür, dass der Prosa-Charakter des Sprachgebildes überdeckt wird. Zeilenbrüche gegen den Satzsinn - es kommt sogar eine Worttrennung über die Strophe hinweg vor - zerreißen die Einheit des Gedichts und verleihen der Sprache gleichzeitig jene Bindung, die das Gedicht als lyrische Form erkennbar macht.

Auffällig ist die seltsame Aufspaltung des Begriffes „Super-Markt” in die beiden Bestandteile 'Super' und 'Markt'. Der 'Markt' wird sogar von seinem 'Zugpferd' gelöst und an den Anfang der nächsten Zeile bugsiert. Ist er vielleicht gar nicht so 'super'? Muss er deshalb von diesem Ausdruck der Bewunderung abgekoppelt werden? Der Dichter legt scheinbar großen Wert darauf, dass der 'Handlungsort' vom Leser gebührend berücksichtigt wird. Super ist der Markt wegen seines großen Warenangebotes: 'Greif zu, hier bekommst du alles.' Ein starker Reiz zum Konsum, eine Verführung, einfach zuzugreifen ohne nachzudenken. Hausdetektive können ein Lied davon singen.

Die erste Strophe hat drei Verse, die zweite zwei, die dritte drei, die vierte gar nur eine, die fünfte dann wieder drei, die sechste zwei, die siebte einen. Fraglich, ob man bei diesem Gedicht sinnvoll überhaupt noch von Strophen und Versen reden kann. Eine Zeile, die letzte, besteht gar nur aus einem Wort.

Die Zeilen markieren keine Sinneinheiten, wie man das von einem Gedicht gern erwartet, sondern brechen den Satz vor dem Ende ab. In diesem Gedicht scheint formale Ordnung eine Fehlanzeige zu sein.

Dieses Durcheinander hilft, die Zerrissenheit in der Gefühlswelt auszudrücken. Das Seelenleben ist aus den Fugen geraten.

Das lyrische Ich begegnet sich in einer Fensterscheibe. Der Mann sieht sein Spiegelbild und dieser Anblick trifft ihn wie ein „Schlag”. Damit hat er - es kann auch eine Frau sein - nicht gerechnet. Das lyrische Ich empfindet die Spiegelung als verhängnisvoll: In der Bedeutung „Schlag”, so wie das Wort im Gedicht gebraucht wird, schwingt die Bedeutung „plötzlich” und „gewalttätig, brutal” mit.

Das plötzliche Eintreten des Unerwarteten findet sich in der Gedichtsform wieder.

Der Leser kann beim Hangeln entlang der dornigen Strophen beim besten Willen auch nicht annähernd vorhersagen, welche Überraschung sich hinter dem nächsten Zeilenende verbirgt. Nur eins ist gewiss: Ein ordentlicher Vers, ein Reim oder auch nur ein bisschen Sprachrhythmus ist nicht zu erwarten.

Was für eine Art Verhängnis bricht denn da nun über den Mann - oder die Frau - herein? Das Gedicht bietet auf seiner Oberfläche zunächst nichts anderes an als das Motiv der Selbstbegegnung vermittels eines Spiegelbildes.

Scheinbar hat der Mann mit einem anderen unangenehmen Ereignis gerechnet. Dieser „erwartete Schlag” ist aber nicht eingetroffen; die Stellvertreter-Überraschung wirkt dafür um so stärker.

Treffer hin, Schicksalsschlag her: Noch ist Holland nicht verloren. Der Dichter weist dem Ausdruck „Trotzdem” eine herausragende Stellung zu. Für einen Moment atmet der Leser auf: Zwar traf der Hammer zentral, aber der Nagel ist noch nicht im Holz versenkt. Vielleicht ein bisschen verbogen, mehr nicht. Der Patient atmet noch.

Das Wort „Trotzdem” erscheint durch den Zeilensprung herausgesprengt aus dem Satzgefüge des verhängnisvollen Schicksals, zu dem es eigentlich gehört. Der Zusammenhang verblasst im Auslauf der Zeile. Deutlicher funktioniert das Wort als Sinnstifter für den Folgesatz: „Und ich geh weiter.”

Die Zeile liest sich auch so: „Trotzdem geh ich weiter.” Diese „trotzige” Haltung nützt dem vom Schicksal der Selbstbegegnung ereilten Menschen nichts mehr: Fortlaufen ist nicht. Er landet direkt vor der Wand. Sie ist „kahl”, das bedeutet kalt, nackt, leer, schmucklos. Wer davor steht, weiß nicht mehr weiter, kann sich nicht mehr helfen, ist am Ende seines Weges angekommen.

Die letzte Strophe des Gedichtes ist wider bessere Einsicht von der Hoffnung geprägt, dass Hilfe von außen kommen möge. Jemand soll den Mann aus der Sackgasse herausholen. Das lyrische Ich spricht sich Mut zu: „sicher” werde ihn jemand abholen. Doch der Mann macht sich etwas vor, und eigentlich hat sich längst schon eine Befürchtung in seine vage Hoffnung eingeschlichen. Das Wörtchen „ab” wird von der Zeile und Strophe, zu der es gehört, regelrecht abgeschnitten. Es steht allein da, mutterseelen allein. Einsam wie der Mauerläufer.

Die Selbsterkenntnis, die mit dem Bild im Spiegel beginnt, lässt alle Illusionen hinter sich. 'Du bist am Ende, Mann', sagt eine innere Stimme unerbittlich. Und sie erstickt jede aufkeimende Hoffnung im Entstehen. 'Du bist am Ende, es gibt keinen Weg zurück und du wirst abgeholt.'

„Abholen”: Dieses vieldeutige Wort schillert in allen Farben und spielt wegen seiner Endstellung in die düsteren Töne hinüber. 'Abgeholt werden', das kann auch bedeuten: 'weg gemacht'. So wie die Polizei einen Verdächtigen zum Verhör abholt oder Ärzte einen Geisteskranken zur Einweisung in die Klinik. Gegen seinen Willen. Vielleicht mit geheimer Hoffnung, dass genau dies passieren möge. Ein untergründiger Wunsch, verborgen vor dem klaren Verstand.

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Will man das Gedicht auf die Lebenswirklichkeit beziehen, dann gibt es viele Möglichkeiten. Dieses Sprachbild funktioniert als Modell für eine vielgestaltige Reihe von Ereignissen, in denen jemand in eine scheinbar ausweglose Situation gerät. Wie sieht es etwa im Inneren eines Menschen aus, der beim Diebstahl ertappt wird? Vielleicht ist er sogar noch einmal davongekommen und begegnet ganz unerwartet seinem Gewissen. Nun muss er erkennen: Du bist ein Ladendieb. Nicht mehr Heinz Meier oder der aufstrebende junge Bürokaufmann, sondern der Ladendieb. Eine unerwünschte Kategorie Mensch, geführt in der Kriminalstatistik der Polizei. Ein Schlag wäre gewesen, erwischt zu werden. Auf frischer Tat ertappt. Doch viel härter fällt der Richterspruch des eigenen Gewissen aus: Du bist am Ende eines Weges angelangt. Du kannst von diesem Punkt nur noch abgeholt werden, so oder so. Und dann Gnade dir Gott. Ob ertappter Ladendieb, noch einmal davongekommener Langfinger oder Vor-die-Wand-Läufer in jeder nur denkbaren Gestalt: Das Gedicht drückt auf originelle Weise das zerrissene Seelenleben in genau dieser Situation aus. Und vielleicht erweist sich der Schlag, der unerwartete, am Ende doch als Weg heraus aus der Sackgasse. Denn es muss anders werden, damit es weitergeht.